PM: Rhetorische Praxis in der Krise: Befördert Corona Managementesoterik?

Münster, 21. Juli 2020. Professoren sehen die Sprechwissenschaft bedroht: Seit Jahrzehnten stehen die universitär verankerten Fächer Sprechwissenschaft und Sprecherziehung mit ihren Erkenntnissen zahlreichen Weiterbildungsangeboten privater Anbieter gegenüber. Diese Angebote unterscheiden sich stark sowohl hinsichtlich der Qualität als auch des Hintergrunds der Trainer/-innen. Durch die Corona-Krise könnte sich nun die Dominanz unwissenschaftlicher Ansätze auf dem Gebiet der Kommunikation weiter verschärfen, vermuten Prof. Dr. Norbert Gutenberg und Prof. Dr. Peter Riemer von der Universität des Saarlandes. Die DGSS setzt sich für sprechwissenschaftliche und sprecherzieherische Studiengänge an Universitäten und Hochschulen ein, um gut ausgebildete Trainer/-innen sowie Nachwuchs für Forschung und Lehre hervorzubringen.

Ein Blick ins Netz eröffnet einen Kosmos an Bildungsangeboten in Sachen Kommunikation: Persönlichkeitsentwicklung, Präsentationstrainings, Rhetorikschulungen – wer beruflich erfolgreich sein will, ist von diesem Erfolg vermeintlich nur ein Klick weit entfernt. Nur: Ein Großteil der Bildungsangebote ist unseriös. Das zumindest behaupten Prof. Dr. Norbert Gutenberg und Prof. Dr. Peter Riemer von der Universität des Saarlandes. Die beiden Professoren leiten den Weiterbildungsmasterstudiengang Sprechwissenschaft und Sprecherziehung der Universität des Saarlandes. Reduktionistisch, wissenschaftlich überholt oder schlichtweg frei erfunden – so beschreiben sie die Inhalte vieler Seminare. „Gibt man ‚Rhetorik’ oder ‚Kommunikationstraining’ in Suchmaschinen ein – was findet man? Überwiegend Ansätze, die auf der sehr umstrittenen Psychoanalyse beruhen, auf in der Wissenschaft längst überwundenen Annahmen des Behaviorismus und auf als esoterisch zu bezeichnenden Prinzipien des positiven Denkens und des sogenannten NLP“, gibt Gutenberg zu bedenken. Prinzipiell sei all dies zwar juristisch nicht angreifbar. Nur solle Wissenschaft in die Lage versetzt werden, dem Aberglauben und der Naivität zumindest ein adäquates Gegengewicht auf die Waagschale zu stellen.
Laut Riemer trifft die Corona-Krise vor allem diejenigen Kommunikations- und Rhetorik-Trainer/-innen, die wissenschaftlich fundiert arbeiten. Seine These begründet er einerseits mit den seit Jahrzehnten erfolgreichen reißerischen Ratgebern mit Titeln der Gattung „Manipulieren, aber richtig“, andererseits mit den Angeboten im Web: „Ein Blick auf die ersten, sagen wir, zehn Seiten der wichtigsten Suchmaschinen zeigt: über 90 Prozent der Angebote befördern schlicht Wunschdenken.“ Folgt man den Ausführungen der beiden Wissenschaftler, wären dies zumindest Indizien dafür, dass differenzierte Inhalte weniger populär sind. Eingeengt durch Erfolgsalgorithmen der Verlage, der Suchmaschinen und privater Bildungsträger, haben es Kommunikationstrainer/-innen schwer, die diesem Wunschdenken nicht entsprechen. „Sie stehen meist nicht vor ausgebuchten Seminarräumen oder gar vor Tausenden, wie es selbsternannte Gurus der sogenannten Keynote Speaker-Szene zu tun pflegen. Denn sie versprechen vor allem Bildung – und nicht Erfolg und Charisma. Das war leider schon immer ein Nachteil“, hebt Gutenberg selbstironisch hervor.
Corona schwächt derzeit die gesamte Branche der Trainer und Coachs. Zumeist bestreiten sie als Freiberufler/-innen ihren Lebensunterhalt. Gutenberg und Riemer berichten von kürzlich geführten Gesprächen mit einigen Kolleg/-innen. Sie zeichnen ein pessimistisches Bild: Im Zuge eingefrorener Weiterbildungsetats der Wirtschaft und Verwaltung stehen viele Trainer/-innen vor dem wirtschaftlichen Ruin. Nicht nur wegen aktuell fehlender Aufträge, sondern weil sie bereits vorher kaum Gelegenheit hatten, für schlechte Zeiten vorzusorgen. Und natürlich trifft das vor allem diejenigen Trainer/-innen, die sich in normalen Zeiten schon mit starkem Konkurrenzkampf konfrontiert sahen. Die dynamische Situation der aktuellen Krise, in der Prognosen, wann und wie Präsenz-Seminare wieder möglich sein werden, spekulativ erscheinen, führt zu starken Verunsicherungen in der Branche.
Zeiten des Stillstands können Gelegenheit bieten, sich neu zu orientieren und höher zu qualifizieren: Es können Zeiten der Weiterbildung sein. Ein Studium ist jedoch auch mit finanziellen Risiken verbunden, da die Einnahmen fehlen. „Viele bewerben sich daher gar nicht für unseren Studiengang“, sagt Gutenberg. Riemer fügt hinzu: „Wir sind sehr froh, dass unsere Universität das Problem erkannt hat.“ Die Universität des Saarlandes will auch Personen mit geringeren finanziellen Ressourcen ein Studium ermöglichen. Interessierte können mit der Bewerbung um den Studienplatz einen Antrag auf Stundung der Studiengebühren stellen.
Neben der Universität des Saarlandes bieten neun weitere Universitäten und Hochschulen in Deutschland Studiengänge im Fach Sprechwissenschaft/Sprecherziehung an:
• RWTH Aachen
• Heinrich-Heine Universität Düsseldorf
• Georg August Universität Göttingen
• Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
• Friedrich-Schiller-Universität Jena
• Philipps-Universität Marburg
• Universität Münster
• Universität Regensburg
• Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart
Weitere Informationen zu den Studiengängen sowie die Kontaktdaten der jeweiligen Ansprechpartner/-innen können Interessierte unter https://www.dgss.de/studium/studienorte/ finden.